Bildung

„Wir legen Wert auf eine Generation mit vielfältigen Fähigkeiten.“

22. Januar 2013

Herr Kömürcü, die Bildungsabteilung gehört mit zu den wichtigsten Abteilungen innerhalb der IGMG. Sie spricht nahezu alle Altersstufen an. In Folge dessen ist Ihr Verantwortungsbereich relativ groß. Würden Sie uns bitte kurz schildern, welche Dienste die Abteilung anbietet und wo die Schwerpunkte liegen?

Im Grunde sind alle Dienstleistungen im Bereich Bildung und Erziehung gleichermaßen wichtig. Jedoch bildet für uns die Institutionalisierung der verschiedenen Bildungsbereiche den aktuellen Schwerpunkt unserer Arbeit. Wir sind dabei, das Leistungsprofil unserer Bildungszentren zu erweitern. Bei diesen Arbeiten konzentrieren wir uns – neben der religiösen Erziehung – verstärkt auf den soziokulturellen Bereich.

Hier zielen wir darauf ab, im Hinblick auf Probleme und Bedürfnisse, mit denen wir in der deutschen Gesellschaft im Bereich Familie und Erziehung konfrontiert werden, durch lösungsorientierte Dienste, Hilfestellung zu leisten. Außerdem verfolgen wir mit Nachdruck die Arbeiten in den Regionalverbänden in Bezug auf die Eröffnung von staatlich anerkannten Kindergärten. Der Bereich Bildung wird derzeit auf den Prüfstand gestellt. Wir streben hier eine Neuordnung an, die den Bedürfnissen unserer Zeit gerecht wird. Dazu gehört auch die Reorganisation der Bildungsabteilung selbst.

Ein Punkt, auf den die Bildungsabteilung besonderen Wert legt, ist die muttersprachliche Bildung. Was wird getan, damit die Kinder und Jugendlichen ihre Muttersprache erlernen und weiterentwickeln können?

Zunächst möchte ich unterstreichen, dass für uns der Erwerb der Muttersprache ein wichtiges Anliegen ist. Wir sind überzeugt, dass ein Kind in dem Maße Persönlichkeit und Selbstvertrauen entwickeln kann, wie es in der Lage ist, seine Muttersprache gut zu gebrauchen. Ein Kind, dessen Wurzeln fest mit seinem Heimatland verbunden sind, wird auch für das Land, in dem es lebt, eine Bereicherung sein können. Andernfalls werden Fragen wie „wer bin ich?“ oder „woher komme ich?“ im Geiste des Kindes unbeantwortet bleiben, und die Gefahr entsteht, dass das Kind im Laufe seines Lebens eine Persönlichkeitskrise erlebt. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Kinder, die ihre Muttersprache gut beherrschen, beim Erlernen anderer Sprachen erfolgreicher sind. In diesem Sinne ist Mehrsprachigkeit ein erstrebenswertes Ziel und ein großer Reichtum. Die muttersprachliche Erziehung ist ebenso relevant für die kulturelle Entwicklung und den Austausch unter den Kulturen. Alle Organisationen der IGMG legen bis zum heutigen Tag bei allen ihren Aktivitäten großen Wert auf diesen Punkt.

Alle Bildungsangebote finden im Rahmen eines hierzu entwickelten Lehrplans statt. Wir wollen unsere kulturellen Erfahrungen, die wir in Europa sammeln in unser Muttersprache artikulieren und unsere Muttersprache wahren.

Hierzu wurden für die Verwendung in der Bildungsarbeit unter anderem auch Mal-, Geschichten- und Sachbücher in türkischer Sprache verlegt. In einigen Regionen werden die Vorbereitungen für die Gründung von zweisprachigen Kindergärten vorangetrieben.

Als eine islamische Religionsgemeinschaft sind die Dienstleistungen der IGMG an alle Muslime gerichtet. So werden die Angebote nicht nur von den Türkeistämmigen, sondern auch von Menschen mit anderen Nationalitäten genutzt. Daher ist es notwendig, manche Aktivitäten in mehrsprachiger Form anzubieten. Wie meistern Sie diese Herausforderung?

Wie sie sagten, richten wir als islamische Religionsgemeinschaft unsere Angebote an alle Menschen. Auch dieser Aspekt wird derzeit verstärkt in den Fokus gerückt.

Zweisprachigkeit ist im Allgemeinen in Zuwandererfamilien verbreitet. Die sprachliche Entwicklung der Kinder ist dabei von der Situation der Familie abhängig, insbesondere dem Wert, den die Familie ihrem sozialen Umfeld und der Ausbildung ihrer Kinder beimisst. Sprache ist nicht nur ein Faktor, der die Denkfähigkeit entwickelt, sondern auch ein Faktor, der das Denken überhaupt erst ausmacht. Deswegen legen wir bei unserem Kindergarten-Projekt besonderen Wert auf die Sprachentwicklung.

Das Erlernen einer zweiten Sprache im Kleinkindesalter fördert die Entwicklung der emotionalen Regionen im Gehirn und ebenso der Bahnen, die der Intelligenzentwicklung dienen. Je später mit dem Erlernen der Zweitsprache begonnen wird, desto weniger wird es möglich, diese so zu erlenen, wie es ein Muttersprachler im Hinblick auf die Beherrschung der Grammatik und der akzentfreien Aussprache erlernt. Zum Beispiel wird das gleichzeitige Erlernen der deutschen und türkischen Sprache im frühen Kindesalter dem Kind zu besseren Ergebnissen im Deutschunterricht verhelfen und es wird ihm leichter fallen, weitere Sprachen zu lernen.

Die Bildungsabteilung hat bereits konkrete Schritte unternommen und brauchbare Ergebnisse erzielt. Die zweisprachig gedruckten Publikationen für den in der Landessprache erteilten Religionsunterricht oder die zweisprachig abgehaltenen Seminare für Lehrerinnen und Lehrer sind zwei aktuelle Beispiele.

Ein weiterer Bereich, dem sich die Bildungsabteilung in erhöhtem Maße widmet, sind Kinder, die von Jugendämtern aus ihren Familien genommen wurden. Auch das Problem der „Pflegefamilien“ gehört dazu. Was ist hier der aktuelle Stand?

Jugendämter sind staatliche Behörden, die Eltern dabei helfen, dass ihre Kinder eine gute Erziehung und Ausbildung erhalten können, oder Müttern und Vätern Hilfen anbieten, die sich gerade in der Scheidungsphase befinden. Allerdings ist die Praxis der Jugendämter, wenn es um das Thema Kindeswohl geht, Kinder auch gegen den Willen der Familie in Obhut zu nehmen, sehr umstritten. Die größeren Probleme beginnen nicht selten, nachdem die Kinder den Familien weggenommen wurden. Daher ist es notwendig, vorbeugende und ergänzende Maßnahmen zu treffen. Dazu bietet unsere Bildungsabteilung ein Maßnahmenprogramm an, darunter Familienbildungsseminare, Elternschulen, Kinderclubs, soziale Aktivitäten oder Kurse für Ethik- und Werteerziehung sowie Familienberatungen.

Zum einen wollen wir mit vorbeugenden Maßnahmen verhindern, dass es überhaupt zu schwerwiegenden familiären Problemen kommt. Zum anderen bieten wir Beratungsdienstleistungen dazu an, was zu tun ist, wenn Probleme entstanden sind. Darüberhinaus informieren wir, wie man als Pflegefamilie ein Kind aufnehmen kann. Damit die Kinder in eine gute Familie kommen, regen wir passende Familien an, sich als Pflegefamilie zur Verfügung zu stellen und ein Kind aufzunehmen. Schließlich arbeiten wir auch daran, Unterkunftsmöglichkeiten und Heime für Kinder zu schaffen, die noch keine Familie gefunden haben.

Umfasst das Projekt der Pflegefamilien nur Deutschland oder wird es auch in anderen europäischen Ländern durchgeführt?

Die Problematik ist auch in einigen anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden und Belgien ähnlich. In Folge dessen haben wir uns das Ziel gesetzt, das Projekt zunächst in Deutschland zu erproben und umzusetzen, um Erfahrung zu sammeln. Langfristig wird es in andere europäische Länder übertragen.

Beschränkt sich das Ausbildungsangebot der Bildungsabteilung ausschließlich auf religiöse Themen?

Die Vermittlung einer religiösen Ausbildung ist eine wichtige Säule unserer Arbeit. Aber wir legen Wert darauf, dass sich die nachfolgende junge Generation in möglichst allen Lebensbereichen ausgeprägte Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignet. Dazu gehört auch der schulische Erfolg. Um hier Hilfestellung zu leisten, bieten wir Nachhilfekurse an. Daneben veranstalten wir Leseprogramme, damit die Kinder ihre Fähigkeiten in der Landessprache verbessern, ihr Wissen erweitern und ihre Lesegewohnheit stärken können.

Zweifellos wird es bessere Ergebnisse bringen, wenn Kinder und Jugendliche in Europa von Lehrern unterrichtet werden, die sich dort auskennen. Was tun Sie, um das zu gewährleisten?

Die Bildungsabteilung der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş führt für ihre Lehrkräfte Schulungen im Bereich des lebenslangen, qualitätsorientierten und kontinuierlichen Lernens durch. Stagnation in einer sich weiterentwickelnden Welt würde Rückschritt bedeuten. Unser Hauptanliegen ist es, unsere Lehrkräfte fortzubilden, über neue Entwicklungen zu informieren.

Die Schulungen, die auch bei der Entwicklung neuer fachspezifischer Lehrmethoden helfen sollen, werden von Personen durchgeführt, die Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet sind. Die Teilnehmer haben nach Abschluss der Schulung den Status einer zertifizierten Fachkraft.

Auch in verschieden Regionalverbänden werden zwecks Verbesserung des Bildungsangebots Schulen und Kurse eröffnet. Was können Sie diesbezüglich und in Bezug auf das Ziel einer stärkeren Institutionalisierung sagen?

Wie zuvor auch schon deutlich gemacht, ist die Institutionalisierung derzeit ein wichtiges Thema. Hierzu werden sowohl in unseren Regionalverbänden als auch in den Unterabteilungen Schritte unternommen. Diese gemeinschaftlichen Anstrengungen sind ein Zeichen dafür, dass sich in der Gemeinschaft ein Verständnis durchgesetzt hat, wonach wir in diesem Land keine Gäste mehr sind, sondern Einheimische geworden sind. Dies zeigt, dass sich die Menschen in die Gesellschaft integriert haben und versuchen, ihre Integration weiter zu verbessern, indem sie dafür Sorge tragen, dass in qualifizierten Ausbildungsstätten qualifizierte Menschen ausgebildet werden.

Was erwarten Sie von den Menschen und von den staatlichen Stellen?

Solche Dienstleistungen anbieten zu können, ist nicht einfach. Daher ist die Unterstützung unserer Gemeinschaft wichtig. Das hilft uns, diese Dienstleistung noch schneller und besser anzubieten.

Unsere Bildungsprogramme sind im Grunde Leistungen, die der Staat erbringen muss. Insofern könnte uns der Staat unterstützen – materiell wie immateriell. Auch von den Eltern wünschen wir uns eine stärkere Beteiligung und Unterstützung.

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