Gemeinschaft

8. KFÖ-Treffen: Entstehung und Entwicklung der IGMG

25. Dezember 2011

Der Samstag begann mit einem Erfahrungsbericht des KFÖ-Teilnehmers Akif Şahin, der anlässlich der Opfertierkampagne 2011 mit dem IGMG Hilfs- und Sozialverein HASENE nach Bosnien gereist war. Dort half er als einer der ehrenamtlichen Helfer zusammen mit anderen Helfern die Opfertierkampagne zu organisieren und durchzuführen. In seiner Präsentation gab Şahin Einblicke in die Geschichte und die derzeitige soziale Lage Bosniens. Vor allem erinnerte er an das Jahr 1995, in dem sich der Massenmord von Srebrenica ereignete. Şahin beschrieb auch den Besuch eines Rehabilitationszentrums, in dem u.a. Kriegsopfer behandelt werden. Auch Salih Demirci, ebenfalls Teilnehmer des KFÖ, der als ehrenamtlicher Helfer in Gambia tätig war, teilte seine Erfahrungen mit den anderen Teilnehmern. Er berichtete von den Schwierigkeiten der Organisation und der Lebenslage der Menschen in Gambia.

Daraufhin folgte der erste Vortrag von Oğuz Üçüncü, der die Entstehung und Entwicklung der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) bzw. der Vorgängerorganisationen behandelte. Pflichtlektüre für die Teilnehmer zu dieser Sitzung war Werner Schiffauers „Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş“.

Üçüncü begann mit Rüştü Banaz, einem der Gründungsväter, der 1967 als Student nach Deutschland kam, wo er Kontakt zu anderen muslimischen Studenten in Braunschweig aufnahm und mit ihnen neben den Tagesgebeten auch das regelmäßige Freitagsgebet organisierte. „Das war zu einer Zeit, wo es im Zuge des Anwerbeabkommens 1961 zwischen Deutschland und der Türkei viele sogenannte Gastarbeiter in Braunschweig gab. Diese erfuhren von den Freitagsgebeten auf dem Universitäts-Campus. So kam es durch die gemeinsamen Freitagsgebete zu einem Kontakt zwischen den Studenten und den Gastarbeitern.“ Später, als man in der Universität nicht mehr beten konnte, mussten andere Räumlichkeiten gefunden werden. Damit war der Grundstein für die zahlreichen Moscheen der heutigen IGMG in Deutschland gelegt. „Heute betreiben wir allein in Deutschland mehr als 320 Moscheen“, unterstrich Üçüncü. Insbesondere um Räumlichkeiten für Gebetsräume anmieten zu können, ergab sich die Notwendigkeit von Vereinsgründungen. Zunächst wurde 1972 die „Türkische Union Deutschland“ gegründet, unabhängig davon die „Türkische Union Berlin“. Später wurde sie in „Türkische Union Europa“ und letzten Endes in „Islamischen Union Europa“ umbenannt. „Rüştü Banaz gilt als einer der Gründungsväter, der erste Vorsitzende der besagten Vereine aber ist Dr. Yusuf Zeynel Abidin gewesen, der in der Türkei Medizin studiert hatte und zum Arbeiten nach Deutschland ausgewandert war.“

Üçüncü nannte in seinen Ausführungen insbesondere zwei einschneidende Daten, die die Fortentwicklung der Gemeinschaft entscheidend geprägt haben. Diese waren die „Islamische Revolution“ im Iran 1979 und der Militärputsch 1980 in der Türkei. „Während die „šislamische Revolution‘ Ausgangspunkt einer internen Auseinandersetzung über die Prinzipien der damaligen Gemeinschaft war, die letztlich zur Abspaltung von Cemalettin Kaplan und 1983 zur Gründung der AMGT führte“, so Üçüncü, „markierte der Militärputsch in der Türkei einen Paradigmenwechsel bezüglich des Umgangs des türkischen Staates mit den in Deutschland entstandenen Religionsgemeinschaften. 1984 wurde die DITIB in Deutschland gegründet. Dies ist insofern wichtig, als dass der türkische Staat sich bis dato außerhalb der Türkei in religiösen Belangen nicht strukturiert engagierte. Entsprechend war der Umgang der Religionsgemeinschaften untereinander von dem Putsch in der Türkei geprägt und dementsprechend angespannt.“

1995 wurde die Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş gegründet. Diese widmet sich der umfassenden Religionsverwirklichung ihrer Mitglieder und bietet darüber hinaus eine breite Palette von sozialen und kulturellen Aktivitäten für alle Altersgruppen an: „Sie ist aktiv in 12 europäischen Ländern, wo sie 504 Moscheen betreibt, die insgesamt fast 110 000 Mitglieder zählen. Die Gemeinschaft zählt inzwischen zwei Jugendorganisationen, einen Kinderclub, eine Frauenorganisation, betreut jährlich mehr als 5 000 Menschen während der Pilgerfahrt und zählt rund 44 000 Familien als Mitglieder ihres Sterbefonds.“

Das Selbstverständnis der IGMG hätte sich aus den historischen Verhältnissen heraus entwickelt. „So ging es anfänglich nur um die Befriedigung religiöser Grundbedürfnisse. Positiv daran war, dass man die Religion zum ersten Mal ohne Gängelungen vom Staat praktizieren konnte. Es war diesen Menschen selbst überlassen, wie sie mit den Quellen umgingen“, sagte Üçüncü. „Es ging nicht mehr um das Nachmachen, sondern um das bewusste Praktizieren der Religion. Es setzte sich damit einhergehend die Einsicht durch, dass Religion nicht nur ein Konstrukt von Riten ist, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension in sich birgt.“ In dem Bemühen, Religion authentisch zu praktizieren, ist es „natürlich auch zu Übertreibungen“ gekommen. „Auch das Selbstverständnis der Gastarbeiter hat sich über die Zeit hinweg geändert. Der Traum von einer Rückkehr in die Türkei wich der Erkenntnis, dass man dauerhaft in der neuen Heimat leben wird. So endete auch das Leben in einem Provisorium.“ Das hieße auch, dass man begann, sich in der „neuen“ Heimat zu verwurzeln. Man baute Moscheen und kaufte andere Immobilien, um nachzuholen, „was man in den letzten 30 Jahren verpasst hat.“ Üçüncü unterstrich dabei, dass den Menschen klar wurde, dass man mit der neuen Einsicht auch den Kontext in dem man lebt, neu würdigen wusste.

Nach einer Pause ging es um die Institutionalisierung der islamischen Gemeinschaften in Deutschland, insbesondere die Bemühungen, einheitliche Strukturen aus Bundes- und Landesebene zu schaffen. Die ersten Versuche, die Interessen der Muslime unter ein Dach zu bringen, führten zur Gründung des Islamrats für die BRD im Jahre 1985. „1988 fand sich der Islamische Arbeitskreis in Deutschland für zwei Themen zusammen: dem islamischen Religionsunterricht und das islamisch-rituelle Schächten.“ Dort seien von Anfang an u. a. die AMGT („Avrupa Millî Görüş Teşkilatları“, , der VIKZ („Verband Islamischer Kulturzentren“) und die DİTİB („Diyanet İşleri Türk İslam Birliği“) vertreten gewesen. Diese Bemühungen seien nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Nach einer Darstellung weiterer Bemühungen, einheitliche Strukturen zu schaffen, beschrieb Üçüncü die Gründung des Koordinationsrats der Muslime (KRM) und wies auf die zu bewältigenden Herausforderungen hin. In diesem Zusammenhang ging der IGMG-Generalsekretär auch kurz auf die Deutsche Islamkonferenz (DIK) ein.

Üçüncü rundete seinen Vortrag mit einer Bewertung ab: „Wir Muslime in Deutschland reden seit 20 Jahren über dasselbe. Und zwar über islamischen Religionsunterricht, Krankenseelsorge und weitere Mischaufgaben zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, also die institutionelle Integration des Islams in Deutschland. Angesichts der rasanten Umbrüche, deren Zeuge wir im gleichen Zeitraum wurden, ist unsere Stagnation in Deutschland  wirklich traurig.“

Innerhalb der regen Fragerunde wurde auch auf Werner Schiffauers Buch „Nach dem Islamismus“ eingegangen. Üçüncü ging auf Ansätze und einzelne Stellen des Buches ein, die seiner Meinung nach den Sachverhalt nicht angemessen darstellen. „Grundsätzlich habe ich Schwierigkeiten mit den Begrifflichkeiten, die Schiffauer verwendet“, antwortet er auf die Frage, ob er sich durch Begriffe wie „Postislamist“ oder „organischer Intellektueller“ beschrieben fühle. Ferner meint Üçüncü, der in dem Buch oft zitiert wird, dass man an zahlreichen Stellen das Gefühl bekommen könnte, jede Aktivität und Dienstleistung diene nur dem Zweck, die Organisation zu erhalten. „Würde man unsere Handlungen aber im Kontext des Bemühens um das „Seelenheil“ des anderen und damit um das Wohlgefallen unseres Schöpfers  verorten“, ergäbe sich eine völlig veränderte Perspektive. Schnell würde man aus dem Selbstzweck zu dem finden, was uns nämlich tagtäglich umtreibt und motiviert.“ (sk)

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